Präsentation der „Ledwina“-Handschrift im münsterschen Erbdrostenhof
Droste-Hülshoffs Roman „Ledwina“ – ein Markstein ihrer dichterischen Entwicklung. Wertvolle Handschrift auf Dauer gesichert
In einer konzertierten Aktion mehrerer Institutionen ist es gelungen, die Handschrift des Romans „Ledwina“ der Annette von Droste-Hülshoff zu erwerben und für die Öffentlichkeit zu sichern und zugänglich zu machen. Das äußert fragile, gut 200 Jahre alte Manuskript wird nun auf Dauer im Westfälischen Literaturarchiv des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe unter besten konservatorischen Bedingungen aufbewahrt.
Eigentum an dem einzigartigen, 48 Seiten umfassenden Dokument erwarben das Droste-Forum e.V. und die NRW-Stiftung durch den Einsatz beträchtlicher Eigenmittel. Es bedurfte freilich weiterer Fördersummen, die die Kulturstiftung der Länder und die Kunststiftung NRW großzügig zur Verfügung stellten, um die Handschrift zu erwerben. Dass am Ende eine (niedrige) sechsstellige Summe für den Abschluss erforderlich war, belegt den hohen kultur- und literaturwissenschaftlichen Wert, der dem Werk der Annette von Droste-Hülshoff heute übereinstimmend beigemessen wird, ebenso wie den besonderen Stellenwert des „Ledwina“-Manuskripts im Droste-Werk im Ganzen.
In ebenso bewährter wie beispielhafter Zusammenarbeit steuerten das Droste-Forum und die Droste-Forschungsstelle bei der LWL-Literaturkommission den Erwerbungsprozess, der von langer Hand durch viele Gespräche mit den alten Eigentümern sorgsam vorbereitet wurde. Mit dem Erwerb konnte verhindert werden, dass das „Ledwina“-Manuskript – nach einer Auktion beispielsweise – womöglich im Tresor vermögender Sammler verschwunden wäre. Da es sich bei diesem Manuskript um den tatsächlich einzigen Überlieferungsträger des Textes handelt, hätte ein solches Szenario gerade für die Forschung einen unersetzlichen Verlust dargestellt.
Dokument der Zerrissenheit
Was das „Ledwina“-Manuskript so außergewöhnlich macht, ist seine besondere Stellung im Droste-Werk. Die Autorin beschäftigte sich hauptsächlich um 1820 mit dem Text, also im Alter von Anfang zwanzig. Der Text gibt einen tiefen Einblick in das Seelenleben einer jungen Protagonistin, die sich mit vielen Problemen und Bedrängnissen auseinanderzusetzen hatte, wie sie auf die junge Autorin selbst zutrafen. Ihrem damaligen literarischen Förderer Anton Mathias Sprickmann stellt sie ihre „Heldin gleich anfangs mit einer innerlich schon ganz zerstörten, und auch äußerlich sehr zarten und schwächlichen Constitution“ vor.
Nach einiger Zeit der Beschäftigung mit dem Text brach Droste das Projekt ab. Die Gründe dafür sind nicht vollends geklärt; Droste berichtet aber bereits Anfang 1819 davon, dass sie einen Roman zu schreiben begonnen und wieder aufgegeben habe, weil zu viele andere Romane, die ihr in Bibliotheken und Leihbüchereien begegnet waren, von Heldinnen handelten, die Ledwina glichen. Eine von vielen zu sein oder gar einer Mode zu folgen, das wollte Droste auf keinen Fall. Ihrer Verwandten Anna von Haxthausen schrieb sie mit der ihr eigenen Selbstironie: „meine Heldin trug schon zu Anfang der Geschichte den Tod und die Schwindsucht in sich, und löschte so nach und nach aus, dies ist eine gute Art die Leute todt zu kriegen, ohne daß sie brauchen den Hals zu brechen, oder an unglücklicher Liebe umzukommen, aber da bringt mir das Unglück aus der Lesebibliothek 4 Geschichten nach der Reihe in die Hand, wo in jeder die Heldin eine solche zarte überspannte Zehrungsperson ist, das ist mir zu viel, ich habe in meinem Leben nicht gern das Dutzend voll gemacht, in keiner Hinsicht, also habe ich meinen lieben, schön durchgearbeiteten Plan aufgegeben“. Das „Ledwina“-Manuskript zeugt davon, dass Droste ihren Plan danach doch wieder aufgegriffen hat. Es ist dem aktuellen Forschungsstand nach zwischen 1820 und dem Winter 1825/26 entstanden.
Dokument der Selbstfindung
Dabei ist es überaus bedauerlich, dass Droste das Projekt abgebrochen hat. Auf den überlieferten Blättern entfaltet sich ein höchst kunstvoller und aufschlussreicher Roman mit innovativer Kraft, der die Rolle einer ebenso klugen und begabten wie empfindsamen jungen Frau in Familie und Gesellschaft reflektiert und dabei von den Nöten und Schwierigkeiten spricht, denen sie sich aufgrund äußerer Zwänge, strenger Normen und innerer Kämpfe ausgeliefert sieht.
Droste gestaltete ihren Text als eine Art Mischung aus Entwicklungs- und Gesellschaftsroman. Reflektierende Passagen, die das Innenleben Ledwinas beleuchten, wechseln sich ab mit szenischen Darstellungen eines streng patriarchalisch geordneten Familienlebens. Deutlich wird, wie konfliktreich und deprimierend es für eine junge Frau mit intellektueller Kraft und starkem Willen zur kreativen Entgrenzung war, in diesen beengenden Strukturen ihren Platz zu finden und zu behaupten. Die Erfahrungen Ledwinas korrespondieren mit denen der Autorin selbst, die sie nicht nur in der Familie, sondern sehr schmerzlich auch im Kontext der Treffen des Bökendorfer Romantikerkreises machen musste, wo man ihr im Frühjahr 1820 bekanntlich übel mitgespielt hatte.
Aber noch einen anderen bedeutenden Punkt zeigt der „Ledwina“-Text. Nichts weniger als ein großer Roman sollte es sein, den die junge Autorin in Angriff nahm. In der Königsgattung, dem Drama, hatte sie sich schon erprobt, nun wollte sie sich in der Großform des Romans betätigen. Auch wenn Droste sich später hauptsächlich auf dem Gebiet der Lyrik wohl fühlte, belegt ihre umfassende Betätigung doch den höchst professionellen Anspruch, den sie an ihr Schreiben schon als junge Frau knüpfte. Der Roman „Ledwina“ setzt hier einen wichtigen Markstein; er kennzeichnet sich in besonderer Weise als Initialtext für das sich prägende literarische Selbstverständnis Annette von Droste-Hülshoffs.